Natalie Knapp: Der unendliche Augenblick (Rezension)

Jede Zeit der tiefen Veränderung ist eine Zeit der Unsicherheit. Das gilt auch für die berufliche Neuorientierung und die Gestaltung der eigenen Berufung. Natalie Knapp zeigt in ihrem Buch „Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind“, wie wir uns das kreative Potenzial von Wandel-Zeiten erschließen können, die immer ein Übergang sind.

Dieser Artikel ist erstmals am 28. Oktober 2015 erschienen, hier liest du die aktualisierte Fassung.

Wie können wir kreativ mit Wandel umgehen?

Als ich die Ankündigung dieses Buches las, wusste ich gleich: „Das will ich lesen.“ Lebe ich doch schon seit einigen Jahren mit dem Thema Wandel in meinem eigenen Leben, im Kontakt mit den Menschen, denen ich in freundschaftlichen Gesprächen und im Coaching begegne, und bei meiner Auseinandersetzung mit Phänomenen in der Gesellschaft.

Was dabei immer heraussticht: Wandel geht einher mit Gefühlen der inneren Zerrissenheit, der Bodenlosigkeit und der Angst. Das führt häufig dazu, sich hilflos zu fühlen oder in eine Haltung der Vermeidung zu gehen.

Fragen, die ich mir dabei stelle, sind: Wie können wir schöpferisch mit Wandel und Zeiten des Übergangs umgehen, vor allem wenn es um das Gestalten der eigenen Berufung geht?

Die Autorin Natalie Knapp

Natalie Knapp ist Philosophin. Sie arbeitet als freie Autorin und philosophische Beraterin in Berlin. Weitere Bücher von ihr sind „Kompass neues Denken“ (2013) und „Der Quantensprung des Denkens“ (2011).

Beim Wandel von Übergängen in der Natur lernen

Im ersten Teil lenkt die Autorin die Aufmerksamkeit auf Übergänge in der Natur. Übergangsräume wie beispielsweise zwischen Wald und Wiese, sogenannte Ökotone, sind kreative Oasen mit ganz besonderen Möglichkeiten. Hier findet Austausch zwischen verschiedenen Lebensräumen und Lebewesen statt.

In der Permakultur-Landwirtschaft wird die Kreativität der Natur genau beobachtet. Die Pioniere der Permakultur vermitteln uns Geschichten des Ausprobierens und auch Scheiterns.

Wir können anhand dieser Beispiele lernen,

  • Beziehungen zu kultivieren,

  • uns auf Unvorhergesehenes einzulassen

  • und so die Übergangszonen schätzen zu lernen.

Fünf Urkräfte, die uns im Wandel Halt geben

Im zweiten Teil beschreibt Natalie Knapp Übergänge im menschlichen Leben: Geburt, Pubertät, Abschiede, Sterben.

Fünf Fähigkeiten ermöglichen und in diesen Wandlungsphasen Stabilität. Die Autorin geht auf jede dieser Kräfte näher ein:

  1. Vertrauen

  2. Hoffnung

  3. Akzeptanz

  4. Liebe

  5. Lebendigkeit

Dabei bezieht sie sich auf den Roman „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler, was die Schilderung besonders lebendig und nachvollziehbar macht.

Ein neues Wir-Bewusstsein für gesellschaftlichen Wandel

Was mich sehr anspricht, ist, dass Natalie Knapp es nicht bei der individuellen Ebene stehen lässt, sondern im dritten Teil auch gesellschaftliche Übergänge behandelt.

Ist ein bislang anerkanntes Weltbild den Anforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen, so entwickelt sich ein neues. Das ist allerdings ein Prozess, bei dem das Bewusstsein sich in einem Übergang befindet. Und das wirkt verunsichernd.

Bei ihren Ausführungen bezieht sich Natalie Knapp sich auf Jean Gebser, der in „Ursprung und Gegenwart“ ein Ordnungsschema entwirft und fünf Epochen der Menschheitsgeschichte unterscheidet. Bereits in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts sagte er voraus, dass der Wandel von der rational geprägten Neuzeit zum integralen Bewusstsein bevorsteht.

War das wesentliche Merkmal der Neuzeit die Entdeckung des Raums mit der damit verbundenen Haltung der Expansion (inklusive großräumige Eroberung von Territorium), so steht nun die Zeit im Mittelpunkt.

Von der kollektiven Zeitnot zum erweiterten Zeitbewusstsein

Derzeit erleben wir kollektiv Zeitnot: wir sollen immer mehr in immer kürzerer Zeit erledigen. Unsere Körperrhythmen kommen da nicht mehr mit.

Natalie Knapp weist darauf hin, dass wir diesem Phänomen nicht bloß durch individuelles Zeitmanagement oder Methoden, die uns helfen, unsere Wahrnehmung zu verfeinern, begegnen können. Es hat auch eine gesellschaftliche Komponente.

Die Autorin legt für mich sehr schlüssig dar, dass wir ein erweitertes Zeitbewusstsein entwickeln können, bei dem wir auch die Konsequenzen unserer Entscheidungen für andere und folgende Generationen mit in Betracht ziehen.

Das geht einher mit einem neuen Wir-Bewusstsein, das unser Verständnis für die Kostbarkeit des einzelnen Individuums mit dem Bewusstsein für gemeinschaftsformende Prozesse verbindet. Ein solches Bewusstsein geht über menschliche Belange hinaus.

Natalie Knapp verdeutlicht ihre Ausführungen über das Zeitbewusstsein mit dem Roman „Momo“ von Michael Ende. Das macht für mich spürbar, wie sehr wir uns als Gesellschaft in die Richtung entwickelt haben, die Michael Ende mit seinen „Zeitdieben“ beschreibt.

Die Zukunft von der Gegenwart her denken

Mir gefällt, dass sich die Autorin immer wieder selbst mit persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen einbringt. Und dass sie viele Quellen miteinbezieht und diese auch angibt.

Sehr engagierte Stimmen kommen zu Wort, die sich für eine lebenswerte Zukunft einsetzen. Beispielsweise der Sozialpsychologe Harald Welzer, der vorschlägt, die Gegenwart von einer Zukunft her zu denken, in der wir die begrenzten Ressourcen der Erde schätzen: Reduce, Reuse, Recycle wird damit zu einem Grundprinzip.

Die Ideen und Visionen seien bereits da, schreibt Natalie Knapp, nun gehe es darum, dass wir uns bei jeder neuen Entscheidung eine einzige Frage stellen: „Setze ich durch diesen kleinen Schritt einen Teil unserer gemeinsamen Zukunft in die Tat um, oder ist es ein Schritt in die expansive Vergangenheit?“

Hinweise zur weiteren Lektüre und Vertiefung

Anders als in ihrem Buch „Kompass neues Denken“ gibt es hier keine Übungen. Am Schluss erhält die interessierte Leser*in übersichtlich dargestellte Hinweise zur Vertiefung mit Literatur, Webseiten und Filmen.

Fazit

Die besondere Qualität des Buches liegt für mich darin, dass es einen Sichtwechsel auf Übergänge ermöglicht: Zeiten des Wandels sind kreative Zonen, in denen das Neue entsteht. Die Unsicherheit gehört dazu.

Wie genau wir mit der Unsicherheit umgehen, nimmt uns das Buch nicht ab. Es lädt zur Reflexion ein: über das eigene Leben und gesellschaftliche Zusammenhänge.

Es ist ein engagiertes Buch, das Stellung bezieht für eine lebenswerte Zukunft. Es weist darauf hin, dass Ideen und Initiativen bereits da sind. Jeder und jede gestaltet mit.

Angaben zum Buch

Natalie Knapp: Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind. Rowohlt Verlag

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