Thinking at the Edge: Ein neues, kraftvolles Denken

Thinking at the Edge ermöglicht Denkprozesse, bei denen jede und jeder wertvolles Wissen beitragen kann. Es wurde von Gene Gendlin begründet. Grundlegend ist dabei die Methode Focusing mit dem Felt Sense: das Denken bezieht den Körper und das innere Erleben mit ein. Ich gehe in diesem Artikel auch auf die drei Phasen mit den 14 Schritten des Thinking-at-the-Edge-Prozesses ein.

Dieser Artikel ist erstmals am 27. März 2020 erschienen, hier liest du die aktualisierte Fassung.

Seit ich Ende der 2000er-Jahre auf die Methode Focusing gestoßen bin, hat mich besonders auch die Philosophie von Eugene Gendlin interessiert. Gendlin hat, gemeinsam mit anderen, aus seiner "Philosophie des Impliziten" sowohl Focusing als auch Thinking at the Edge (TAE) entwickelt. In diesem Artikel gehe ich insbesondere auf Thinking at the Edge ein.

Thinking at the Edge: Eine neue, lebensförderliche Art des Denkens

Ich sehe in Thinking at the Edge (auf Deutsch etwa Denken am Rand oder Denken an der Schwelle) sehr viel Potential für eine neue Art des Denkens: ein Denken, das uns individuell zu mehr Lebendigkeit führt und uns kollektiv bei einem lebensförderlichen Wandel unterstützt.

TAE - Thinking at the Edge: Was ist das?

Eugene Gendlin war Philosoph und Psychotherapeut. Er hat die Methode Focusing entwickelt.

Focusing ermöglicht es einem, mit allen inneren Anteilen in Beziehung zu treten. Und das in einer Haltung der Wertschätzung, ohne zu beurteilen oder zu verurteilen, wie etwa: "Meine Angst ist schlecht... ich bin schlecht".

In Kontakt kommen mit dem Felt Sense

Dieses achtsame In-Kontakt-Sein mit dem inneren Erleben ermöglicht den Felt Sense, wie ihn Gendlin nennt.

Siehe mein Blogartikel: “Was ist ein Felt Sense eigentlich?”

Wir fühlen und spüren etwas, das bedeutsam für uns ist, das wir jedoch noch nicht in Worte fassen können. Indem wir uns dem zuwenden, erhalten wir Zugang zu unserem impliziten Wissen: Wissen, das in uns ist, wir aber noch nicht versprachlicht haben.

Das implizite Wissen in Sprache fassen

Und dennoch ist es wichtig, dieses implizite Wissen in Sprache zu fassen. Denn wir denken in Sprache und verständigen uns vorwiegend mit Sprache.

Für Gendlin ist Sprache tief im menschlichen Körper verankert. Bevor ich etwas sage, habe ich ein körperliches Gefühl davon.

Den Körper und das Erleben mitnehmen

Gendlin nimmt den Körper und das Erleben in die Philosophie hinein. Bei Thinking at the Edge handelt es sich allerdings nicht um etwas, das bloß für Philosophen interessant und verständlich ist. Es beruht auf Gendlins "Philosophie des Impliziten", ist jedoch eine Methode für jederfrau und jedermann.

Jeder Mensch birgt einen enormen Schatz an noch nie Gesagtem

Hast du manchmal das Gefühl, dass eh schon alles gedacht und gesagt wurde? Und es doch auf deinen Beitrag gar nicht mehr ankommt?

Für Gendlin ist jeder Mensch ein enormer Fund von etwas, das die Welt noch nie gehört hat. Studenten, mit denen er den TAE-Prozess durchging, teilten ihm freudig mit, dass sie nun fähig seien, über das zu sprechen, was sie zuvor nicht zu sagen imstande waren. Das war ein Aha-Erlebnis für sie: Ich kann ja denken!

  • Denken ist dann nicht mehr bloß ein neu ordnen oder kopieren von bereits vorhandenen Wissensbausteinen, die abgekoppelt sind von eigenen Gefühlen und Empfindungen.

  • Denken wird zu einem wahrlich kreativen Prozess - und das löst Freude aus. Es ist dann auch nicht mehr nötig, "den Kopf" abzuwerten und gegen Gefühle auszuspielen. Denn dieses Denken findet eben nicht bloß abgetrennt im Kopf statt.

TAE - Thinking at the Edge: Der Prozess mit 14 Schritten

Thinking at the Edge gliedert sich in 14 Prozess-Schritte, die in drei Phasen gegliedert sind.

Die 3 Phasen

  1. In der ersten Phase sprichst du über ein Thema vom Felt Sense aus. Du findest deine eigene Sprache dazu.

  2. In der zweiten Phase findest du neue Bedeutungen, ausgehend von deinen eigenen Erfahrungen.

  3. Und in der dritten Phase kannst du soweit gehen, eine Theorie oder ein Konzept zu bilden.

Wovon gehst du aus?

Ausgangspunkt ist etwas, das dir noch unklar ist. Wo du merkst: Da zieht mich etwas an, da will ich mehr darüber wissen.

Oder aber: Da möchte ich einen Aufsatz dazu schreiben oder einen Website-Text. Du möchtest jemandem darüber erzählen, doch beim Versuch, das zu tun, stammelst du herum.

Meist ist uns so ein Gestammel peinlich. Vielleicht sagt unser Gesprächspartner sogar: "Was redest du da so wirr herum? Was willst du eigentlich sagen? Komm auf den Punkt."

Gerade das Neblige, Unklare ist wertvoll

Das Schöne bei Thinking at the Edge ist: Es geht eben nicht darum, sofort auf den Punkt zu kommen. Dass dich da etwas anzieht, jedoch noch neblig-unklar ist, das zeigt an: Halt, da ist etwas Wichtiges, da kündigt sich etwas Neues an. Gib dir Zeit, gib diesem Etwas Zeit. Damit es sich entwickeln kann.

Gendlin schreibt in einem seiner Aufsätze, dass er mit Studenten an der Universität von Chicago mit Thinking at the Edge gearbeitet hat. Und für sie war es total neu, in dieser Weise an Themen heranzugehen.

Wenn ein Student sofort sehr klar über etwas sprach, dann sagte Gendlin zu ihm: "Dafür brauchen wir Sie nicht, wir haben es bereits in der Bibliothek."

Ein geschützter Rahmen für den schöpferischen Prozess

Wie beim Focusing ist es auch bei Thinking at the Edge hilfreich, nicht alleine, sondern mit einem Partner zu arbeiten. Und dafür gibt es einen geschützten Raum mit klaren Regeln.

Die Regeln im Thinking-at-the-Edge-Prozess:

  • Klare Aufteilung der Rollen in Zuhörenden und Sprecher

  • Der Zuhörende kümmert sich um die Zeit und schreibt für den Sprechenden stichwortartig mit (das Mitschreiben ist hingegen beim Focusing meist nicht so wichtig)

  • Beide bringen sich in einen Zustand der Gegenwärtigkeit

  • Der Zuhörende hört interessiert und aufmerksam zu. Er enthält sich persönlicher Kommentare; anders als im Focusing ist es wichtig, dass er dem anderen inhaltlich folgt und zu verstehen gibt, wenn er nicht aufmerksam bei der Sache war ("Könntest du das bitte wiederholen?")

  • Besondere Vertraulichkeit: der Zuhörende spricht nicht mit anderen über das, was er vom Sprechenden gehört hat, und spricht diesen auch nicht nach den Zweier-Settings von sich aus darauf an.

Zuhören und Sprech-Denken: Ein Geschenk

Der Zuhörende macht dem Sprecher damit ein unbeschreiblich wertvolles Geschenk: Er schenkt seine Zeit und seine Präsenz, er hält einen wertschätzend-achtsamen Raum.

So kann der Sprechende sich vertrauensvoll mit seinem Felt Sense zum Thema verbinden und die zarten Pflänzchen dessen, was sich zeigt, in Worte zu fassen versuchen.

Und der Sprechende schenkt dem Zuhörenden sein Vertrauen, seine Offenheit und Verletzlichkeit. Und er lässt den anderen zum Zeugen für seinen kreativen Prozess werden.

Individueller Denkprozess vor einem Gruppenprozess

Ich habe früher oft in Brainstorming-Settings gelitten – mit flauem Unbehagen bis hin zu Übelkeit. Ich merkte, dass das nicht der richtige Rahmen für mich ist, um wirklich Kreatives aus mir zu schöpfen.

Gendlin hat betont, wie ausschlaggebend es ist, nicht zu schnell mit anderen über die eigenen zarten Pflänzchen zu reden, außerhalb eines geschützten Rahmens des Thinking at the Edge.

Er hielt es für sehr wichtig, dass wir zuerst Zeit und Raum für unseren individuellen Spür-Denkprozess haben, bevor wir unsere Erkenntnisse mit anderen in Gruppenprozessen teilen und in der Gruppe damit weiterarbeiten.

Anders als Brainstorming – auch die Stillen sind einbezogen

Das ist eine ganz andere Auffassung als: Machen wir sofort ein Brainstorming, los, los, sei kreativ, raus damit!

Das kann ja auch mal durchaus sinnvoll sein, aber wohl nicht für wirklich tiefgehende Prozesse, wo wirklich jede Person – auch die Stillen und Introvertierten – einbezogen ist und wir auch als Gruppe oder im Unternehmen die "allgemeine öffentliche Sprachbarriere" (Gendlin) überschreiten.

Thinking at the Edge – Warum ist das wichtig?

Das Denken, das durch Thinking at the Edge möglich wird, ist in Kontakt mit dem eigenen inneren Erleben; wofür Gendlin hat dafür den Begriff Felt Sense geprägt.

Und wie bereits beschrieben, geht von dem aus, was noch diffus und unklar ist. Wir können uns damit grundlegende Frage stellen: Was ist wirklich wichtig? Wie will ich leben? Und wie wollen wir gemeinsam unsere Gesellschaft neu visionieren und gestalten? Thinking at the Edge kann hier einen wesentlichen Beitrag leisten.

Siehe dazu mein Artikel auf medium.com: “Thinking at the Edge (TAE) und eine neue Geschichte des Interbeing. Neues Denken für lebensförderlichen Wandel”

Die tiefe politische und soziale Bedeutung von TAE - Thinking at the Edge

In dieser Form des kreativen Denkens, das schöpferisch Neues hervorbringt, liegt auch eine tiefe politische und soziale Bedeutung.

Denk einmal zurück:

  • Wie oft hast du schon gesagt oder geschrieben, was was zu dem passt, was es bereits an Gesagtem und Geschriebenem gibt?

  • Wie oft traust du dich nicht, von dem zu sprechen, was du gerade durchlebst?

  • Wie groß ist deine Angst, inkompetent zu wirken, wenn du nicht sofort wohlformulierte Sätze parat hast? Oder wenn du von dem abweichst, was bekannt und akzeptiert ist?

Wenn du nur ein wenig so wie ich bist, dann ist das häufig passiert. Doch warum ist das so?

Die "allgemeine öffentliche Sprachbarriere" (Gendlin)

Gendlin spricht von der "allgemeinen öffentlichen Sprachbarriere", die wir meist nicht zu überschreiten wagen. Es gibt Dinge, die sind bekannt, anerkannt, dürfen gesagt werden, passen in eine Schublade.

Mit Hilfe der Schritte des Prozessmodells Thinking at the Edge können wir uns darin einüben, über die Barriere zu treten. Und das darf neugierig-spielerisch geschehen.

Jeder hat etwas, das die Welt bereichert

Etwas, das frisch und neu ist. Es sind nicht bloß andere Leute, die Ideen haben und deshalb etwas zu sagen und zu entscheiden haben: "die Kreativen", "die Intellektuellen", "die Wissenschaftler".

Wir alle haben ein reiches Innenleben, mit einer ganz eigenen symbolischen Sprache. Und wir können diesen inneren Schatz nach Außen bringen. So finden wir unsere Stimme. Und das bringt uns auch in unsere Kraft und den gesunden Gebrauch von Macht.

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Mein Artikel auf medium: “Thinking at the Edge (TAE) und eine neue Geschichte des Interbeing. Neues Denken für lebensförderlichen Wandel”

Meine Rezension des Buches über Focusing von Eveline Moor: “Körperweisheit. Wie Sie mit Focusing Ihre Körperintelligenz nutzen”


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