Was ist Scham und wie wirkt sie sich aus?
Scham kann als eines der fünf grundlegenden Gefühle betrachtet werden. Doch was ist Scham überhaupt? Das frage ich mich und recherchiere dazu. Ist sie nicht vielmehr anerzogen? Und warum scheinen sich gerade Frauen besonders viel zu schämen? Was hat Scham zu tun mit dem, was unter Weiblichkeit verstanden wird, mit den Rollen, die Frauen zugeschrieben werden? Die Scham wird unterschiedlich beschrieben und bewertet. Ich trage hier aus ein paar Quellen Sichtweisen zusammen.
Bréne Brown: Scham zerstört menschliche Verbundenheit
Die amerikanische Sozialforscherin Bréne Brown hat fast ein Jahrzehnt lang zu Scham geforscht: Was ist Scham und wie beeinträchtigt sie unser Leben? Sie führte zahlreiche Interviews; dabei fand sie heraus, welche Menschen „Scham-Resilienz“ entwickeln. Zu ihrer Überraschung war das Ergebnis, dass es diejenigen sind, die ihre Unvollkommenheit und Verletzlichkeit annehmen. Sie schreibt darüber in ihrem Buch: "Die Gaben der Unvollkommenheit".
Für mich zeigt sich dabei, dass es zunächst einmal wichtig ist, Scham überhaupt wahrzunehmen – sie nicht zu verleugnen und einfach weghaben zu wollen. Und es geht dabei wesentlich um den Umgang mit sich selbst. Bezeichnenderweise stellte Bréne Brown fest, dass Scham mit Glaubenssätzen verbunden ist: „Ich bin nie gut genug“ und „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“
Bréne Brown meint, dass Scham menschliche Verbundenheit zerstört. Wenn wir uns aufgrund von Situationen, in denen und für die wir uns schämen, von anderen abkapseln. Uns nicht trauen, darüber zu erzählen.
Ich meine, dass das aber nicht der Scham an und für sich angelastet werden kann. Scham kann ein Wegweiser sein, uns anderen mitzuteilen, uns eben auch verletzlich zu zeigen. Doch das braucht geeignete Gefäße: uns jemandem, der nicht fähig oder bereit ist, zuzuhören, schnell mal zwischen Tür und Angel so zu öffnen, wird uns eher darin bestätigen, das nächste Mal tunlichst den Mund zu halten.
Scham ist Wächterin des intimen Raumes
Gabriele Frick-Baer, Traumatherapeutin und Autorin, nennt Scham einen „Wächter des intimen Raums“ – ich würde aufgrund des Geschlechts des Wortes eher Wächterin sagen. Sie hat aus ihrer Therapiepraxis viel Erfahrung damit, wie und wofür sich Menschen schämen.
Für Frick-Baer ist Scham „das Gefühl, das auftritt, wenn Intimes an die Öffentlichkeit gerät oder zu geraten droht”. Hier geht es also darum, dass etwas verborgen bleiben, nicht entblößt werden soll.
Frauen schämen sich anders als Männer
Gabriele Frick-Baer spricht in einem Interview über Scham. Sie hat festgestellt, dass Frauen sich anders schämen als Männer (von der Tendenz und aus ihrer Erfahrung als Therapeutin her, ich bin immer vorsichtig mit Zuschreibungen und Verallgemeinerungen – das trifft also nicht auf alle Frauen und Männer zu, und bei der Einteilung in Mann und Frau sind wir immer noch in der binären Sichtweise und vergessen Menschen, die sich auch anders wahrnehmen und nicht eindeutig zuordnen).
Frauen schämen sich, wenn
- sie das Gefühl haben, dass ihr Innerstes entblößt wird: jemand liest ihr Tagebuch oder jemand sieht etwas an ihrem Körper, dass sie als nicht so vollkommen ansehen und daher lieber verbergen wollen
- in ihrer Familie etwas geschieht, dass sie verbergen möchten
Männer schämen sich, wenn
- sie ihren Status bedroht fühlen
- ein (vermeintliches) Versagen öffentlich zu werden droht
Themen sowohl bei Frauen und Männer sind dabei häufig: Arbeit, Armut, Krankheit, Aussehen.
Einen Unterschied erkennt Gabriele Frick-Baer in der Reaktion auf bestimmte Situationen: Suchen Männern bei Pannen und Fehlern die Ursache häufig im außen, so sind sich Frauen meist sicher, dass sie den Fehler gemacht haben und schämen sich dafür.
Die Traumatherapeutin sagt in dem Interview, dass sie erstaunt war, wie häufig Männer sich schämen. Sie hatte die Erwartungshaltung, dass Scham vor allem „Frauensache“ sei. Doch habe Scham bei Männern auffällig oft mit Beschämung zu tun. Und die sei etwas anderes als Scham.
Scham ist zu unterscheiden von Beschämung
Beschämung ist das Gefühl, von anderen vorgeführt und erniedrigt zu werden, so Gabriele Frick-Baer: Diese Erfahrung machen Männer häufiger als Frauen. „Ätsch, du hast kein Tor geschossen!“, „Ätsch, du kannst kein Fußball spielen!“
Frick-Baer sieht die Scham, die die Intimität schützt, als nützlich an, im Gegensatz zur Beschämung, die sie für schädlich hält. Die häufigste Folge von beschämenden Situationen sieht sie in emotionalem Rückzug, und der sei bei Männern häufiger als bei Frauen.
Scham als die Kraft der Demut
Sehr differenziert sieht Vivian Dittmar, die über emotionale Intelligenz forscht und schreibt, die Scham. Für sie ist Scham eines der fünf Grundgefühle, neben Trauer, Angst, Wut und Freude. Die nennt Scham „die Kraft der Demut“: denn aufgrund von Situationen, in denen wir uns schämen, können wir den Blick auf uns selbst lenken.
Scham hilft uns, uns besser kennenzulernen. Und uns anzunehmen, auch mit unseren Fehlern und Schwächen. So können wir uns weiterentwickeln.
Was bedeutet für sie „schamlos“ zu sein?
- Für Dittmar führt fehlende Scham zu einem aufgeblasenen Selbstbild – weil wir eigene Schwächen nicht zulassen.
- Auf der anderen Seite gibt es laut Vivian Dittmar auch die Möglichkeit, sich permanent zu schämen: alles, was passiert, wird dann auf sich und die eigene Unzulänglichkeit zurückgeführt. So weichen wir der Konfrontation aus: einem Menschen zu sagen, was uns nicht passt; eine für uns nicht mehr tragbare Situation zu verändern. Wir vermeiden damit, in Beziehung zu sein.
Scham hat zu tun mit Geheimnissen, die als Tabu wirken
Die Therapeutin, Autorin und Geschichtenerzählerin Clarissa Pinkola Estés bringt in ihrem Buch „Die Wolfsfrau. Die Kraft der weiblichen Urinstinkte“ die Scham vor allem mit Geheimnissen in Verbindung. Sie hat in ihrer therapeutischen Praxis von tausenden Frauen Geheimnisse anvertraut bekommen – Dinge, für die sich die Frauen geschämt haben, die sie zuvor noch niemand anvertraut hatten.
Diese Geheimnisse drehten sich beinahe immer um Sexualität, Liebe, Geld und Macht. Und die Frauen hatten Gewissensbisse, weil sie das, was sie getan hatten oder was ihnen angetan wurde, als Schande ansahen: Die Schande, gegen einen gesellschaftlichen oder religiösen Moralkodex verstoßen zu haben.
Besonders tragisch ist meiner Meinung nach, dass Frauen sich auch schämen, wenn jemand anderer ihnen etwas antut.
Pinkola Estés erzählt in ihrem Buch die Geschichte vom „Mädchen mit dem Goldhaar“:
Eine schöne junge Frau mit goldblonden Haaren lebt alleine im Wald. Der Sohn des Köhlers will sie zwingen, seine Frau zu werden. Sie weigert sich. Damit er fortgeht, gibt sie ihm ein Büschel ihrer goldenen Haare mit.
Der Köhlerssohn will die Haare auf dem Markt verkaufen. Doch die Leute lachen ihn aus. (Auch hier finden wir das Muster der Beschämung! RS) Er geht zu der Frau zurück, wirft ihr Betrug vor. Er erwürgt sie und verscharrt sie in einem Erdloch.
Lange geht sie niemandem der Dorfbewohner ab. Doch an ihrer Grabstelle wachsen ihre Goldhaare zu goldenen Schilfhalmen. Schäfer kommen vorbei, schnitzen sich daraus Flöten und singen wieder und wieder das Lied, das das Geheimnis preis gibt: Die Frau wurde ermordet, vom Sohn des Köhlers, weil sie ein Leben in Freiheit wollte. So wird der Mörder doch noch überführt.
Frauen wird von Kindheit an nahegelegt, daß bestimmt universell beobachtete Verstöße gegen den Sitten- und Moralkodex eine Schande sind, von der weder der Täter noch das Opfer jemals erlöst werden können. "Aber das ist nicht wahr! Es gibt nichts endgültig Unverzeihliches auf der Welt, weder auf diesem Planeten noch anderswo. (Pinkola Estés, S. 452)
Entscheidend ist laut Pinkola Estés mit einem vertrauenswürdigen Menschen über das zu sprechen, was passiert ist. Begraben wir solche Geheimnisse in uns, dann werden sie zum „Mörder der Seele“.
Quellen:
Bréne Brown: Die Gaben der Unvollkommenheit. Lass los, was du glaubst sein zu müssen und umarme, was du bist. 3. Aufl.: jkamphausen 2014
Udo Baer: „Die Scham der Frauen und die Scham der Männer“, ein Interview mit Dr. Gabriele Frick-Baer. In: Trauma und Würde. Blog von Udo Baer. 13. Mai 2019.
Vivian Dittmar: Gefühle und Emotionen. Eine Gebrauchsanweisung. 6. Aufl.: edition est 2020
Clarissa Pinkola Estés: Die Wolfsfrau. Die Kraft der weiblichen Urinstinkte. Heyne 1997
Bild: Pixabay - Gerd Altmann
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