Das Erbe der Kriegsenkel - Matthias Lohre (Rezension)

"Ich habe keine Ahnung, wer ich bin." Das schreibt Matthias Lohre am Anfang seines Buches "Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht". Er bricht auf zu einer Reise in seine Familiengeschichte und kommt dabei letztlich bei sich selbst an. Ein interessantes Buch, das sowohl Einblick gibt in die Fachliteratur, die zum Thema Kriegsenkel bereits vorhanden ist, als auch ein sehr persönlicher Bericht des Autors ist.

Dieser Artikel ist erstmals am 24. Februar 2022 erschienen, hier liest du die aktualisierte Fassung.

Mathias Lohre ist selbst ein Kriegsenkel

Matthias Lohre zählt sich zu den Kriegsenkeln. Er arbeitet als Journalist und Autor in Deutschland. Er ist 1976 geboren.

Als Kriegsenkel werden die Kinder von Eltern bezeichnet, die in etwa zwischen 1927 und 1947 geboren wurden. Die Eltern der Kriegsenkel mussten mit dem, was sie als Kind im Krieg erlebten – Hunger, Gewalt, Flucht, Bombenangriffe – weitgehend alleine zurecht kommen; nach dem Kriegsende wurde in vielen Familien darüber geschwiegen oder bloß in wiederkehrenden Anekdoten erzählt. Das hat sich auf die nachfolgende Generation der zwischen etwa 1955 und 1976 Geborenen ausgewirkt.

Spannend wäre es zu vergleichen, welche Unterschiede es gibt zu den Menschen, die in der Schweiz aufgewachsen sind und Eltern und Großeltern haben, die in der Zeit von 1927 bis 1947 in der Schweiz gelebt haben; war die Schweiz doch nicht so unmittelbar ins Kriegsgeschehen involviert.

Erst seit den 2000-er-Jahren sind die Erlebnisse der Kriegskinder und Kriegsenkel verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit gekommen, vor allem in Deutschland, aber auch in Österreich. Es gab Kongresse, Bücher sind erschienen. Es bildeten sich Kriegsenkel-Gruppen.

Bleierne Schwere im Elternhaus

Ausgangspunkt für die Entwicklungsreise des Autors ist der Unfalltod des Vaters. Matthias Lohre macht sich auf den Weg zu Orten seiner Kindheit. Er erinnert sich an seine Eltern, die ihm fremd blieben. Der Vater wollte seine Ruhe haben, unterbrochen durch jähzornige Ausbrüche. Die Mutter war ständig mit etwas beschäftigt.

Im Elternhaus lastete eine bleierne Schwere. Emotional waren die Eltern nicht erreichbar – und das ist etwas, das viele Kriegsenkel schildern. Was zählte, war, etwas zu leisten und es zu materiellem Wohlstand zu bringen.

Auswirkungen für die Kriegsenkel gibt es viele: eine wesentliche ist, dass sie es schwer haben, ihren Platz im Leben zu finden. Zu wissen, wer sie sind – und ich würde ergänzen: Was ihre Bestimmung, ihre Berufung ist. Ja, vielleicht finden es viele sogar anmaßend, sich so wichtig zu nehmen, dass es so etwas wie eine Berufung für sie geben sollte.

Gefühlsblindheit

Der Autor geht der Frage nach, was seinen Vater blind für Gefühle machen ließ. Er stößt auf die Erziehungsdoktrin im Nationalsozialismus, die darauf abzielte, den Willen des Kindes vom Zeitpunkt der Geburt an zu brechen und es nur ja nicht zu "verzärteln". Und er findet Glaubenssätze heraus, die in der Familie herrschten, wie zum Beispiel: "Die wollen nur unser Geld" oder "Du kannst niemandem trauen".

Wie trotzdem glücklich werden?

Zunächst hat Matthias Lohre große Bedenken, Kontakt zu seinem Onkel aufzunehmen – dem Bruder seines Vaters. Als er es dann doch tut, merkt er, dass der Onkel anders ist als der Vater. Er hat es geschafft, sich von der Kriegsvergangenheit nicht total bestimmen zu lassen.

Der Autor folgt der Spur: Wie schafften es manche Menschen, trotz der traumatischen Erlebnisse glückliche Menschen zu werden? Ein Faktor ist, dass der Onkel eine andere Beziehung mit seiner Frau führt, als Matthias Lohre das von seinen Eltern kennt: offener, humorvoller, lebendiger.

Matthias Lohre erkennt zudem, dass es wichtig ist, sich mit der (Familien-)Geschichte auseinanderzusetzen, Fakten bzw. Erinnertes zu kennen. Doch dass das bloß die intellektuelle Auseinandersetzung damit ist.

Der nächste, notwendige Schritt ist jedoch, einen Weg zu finden, mit diesem schmerzhaften Wissen umzugehen. Und das ist keine Sache des Denkens, da kommen die Gefühle ins Spiel. Angst, Wut und Trauer. Und der Körper. Ein neuer Umgang mit sich selbst ist zu entwickeln: Mitgefühl.

"Echte Versöhnung ist vor allem Versöhnung mit sich selbst." (S. 232)

Reden wir

Am Schluss regt der Autor dazu an, miteinander ins Gespräch zu kommen.

"In Geschichten erklären wir einander und uns permanent, wer wir sind." (S. 252)

Das richtet er vor allem auch an die Generation der Kriegsurenkel - also die Kinder der Kriegsenkel.

"Reden ist der Beginn jeder Erinnerung – und ihr Ziel." (S. 253)

Sie haben noch die Chance, mit ihren Eltern – also den Kriegsenkeln - in einen heilsamen Dialog einzutreten.

Fazit zum Buch: “Das Erbe der Kriegsenkel”

Ich habe das Buch mit großem Interesse gelesen. Gerade die Verknüpfung der persönlichen Geschichte mit den Informationen über den Stand der Forschung über Kriegskinder und Kriegsenkel gefällt mir sehr gut.

Ich fühle mich bestärkt in meinen eigenen Auffassungen und Erfahrungen, dass es nicht um Beschuldigen geht, sondern um Verstehen.

Und dass die Reise in die Vergangenheit und Familiengeschichte vor allem eine Reise zu sich selbst ist – bei der es ausschlaggebend ist, mit den eigenen Gefühlen in Beziehung zu treten. Das würde ich noch erweitern und sagen, mit dem eigenen inneren Erleben, denn da zeigt sich mehr als Gefühle. Dafür braucht es Aufmerksamkeit, Methoden und eine geschützte Atmosphäre.

Dann können wir uns auch den anderen öffnen und ins Gespräch gehen: ehrlich, auf Augenhöhe, ohne Beschämung.

Angaben zum Buch

Matthias Lohre: Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht. München: Penguin Verlag 2018. ISBN: 978-3-328-10186-4


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