Hochsensibel statt mangelnde Abgrenzung?
"In Gesellschaft von Menschen zu sein, finde ich oft anstrengend, ich bin halt hochsensibel" – so oder ähnlich höre ich das öfters. Meiner Erfahrung nach wird das Etikett "hochsensibel" manchmal vorschnell aufgeklebt, wenn es sich eigentlich um vorschnelle Anpassung an die Bedürfnisse und Erwartungen anderer handelt.
Hochsensibel wird dann zu einer Erklärung, die davon abhält, etwas zu verändern.
Damit will ich nicht sagen, dass es so etwas wie hochsensibel nicht gibt oder es keinen Sinn macht, diese Zuschreibung für sich zu verwenden. Es kann sehr entlastend wirken, weil man weiß, dass es auch anderen so geht und die Hochsensibilität positive Qualitäten hat. Man kann darüber lesen, sich mit anderen austauschen, sich damit beschäftigen.
Ich kenne das auch nur zu gut: Ich brauche Zeiten für mich. Wenn ich beispielsweise ein Wochenende mit anderen verbringe, zum Beispiel bei einem Seminar, wenn ich eine Ausbildung mache.
Damit habe ich mich auseinandergesetzt und Folgendes herausgefunden:
- Dass ich ständig mit den anderen zusammen sein muss, war teilweise dem Ablauf und Programm zuzurechnen, doch oft auch meine eigene Vorstellung: mich zurückzuziehen, für mich zu sein, war mir unangenehm ("Was denken dann die anderen?", "Kriege ich dann etwas Wichtiges nicht mit?", "Bin ich dann eine Außenseiterin, weil sich die anderen mittlerweile gut kennenlernen?")
- War es dem Programm zuzurechnen, dann habe ich künftig darauf geachtet, welche Seminare und Ausbildungen ich besuche. Ist der ganze Tag durchgetaktet, läuft das Programm auch nach dem Abendessen noch bis spät in die Nacht fort, dann ist es nichts für mich. (Das ist jetzt einfacher für mich als in der Anstellung, wo gewisse Firmenveranstaltungen und Weiterbildungen quasi vorgeschrieben waren.)
- Bei Treffen war ich in Erwartungshaltungen über mich selbst, und meine innere Kritikerin war aktiv: "Du solltet mehr reden, sei nicht so still", "Was, jetzt schon gehen? Wie schaut das aus?", "Was, nur ich finde diese Musik zu laut, den anderen gefällt es, dann harre ich halt auch aus."
Sehr viel von dem Gefühl der Überforderung war also damit verbunden, dass ich mich so verhalten wollte, wie es andere (scheinbar) von mir erwarteten.
So eine vorauseilende Anpassung hatte damit zu tun, mich nicht gesund abgrenzen zu können: Zu wissen, wo meine Grenzen sind und zu ihnen zu stehen. Ich nahm andere Menschen wichtiger als mich selbst.
Als ich mich und meine Bedürfnisse ernst nahm, habe ich auch das Zusammensein mit anderen immer mehr genießen können. Denn ein enormer Druck war von mir abgefallen.
Auch bei meinen Kundinnen begegnet mir das. Wir schauen dann zunächst, wo und wie in einer Situation mit anderen Menschen zuerst bemerkbar ist, das etwas für einen nicht stimmt. Diese Wahrnehmung ist der entscheidende erste Schritt, um gut für sich selbst zu sorgen und etwas aktiv zu verändern.
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