Ist es deine Schuld wenn du ein Ziel nicht erreichst?
Du hast dir etwas vorgenommen. Du hattest einen Lebensentwurf: du wolltest eine bestimmte Ausbildung absolvieren oder in einer bestimmten Branche eine Anstellung erhalten und eine Position erlangen. Daraus wurde nichts. Jetzt bist du in der Lebensmitte. Du machts dir Vorwürfe. Du sagst dir: Ich bin schuld, dass ich das nicht erreicht habe. Doch: Ist es deine Schuld, wenn du dein Ziel nicht erreichst?
Eine entscheidende Frage dabei ist, was es für dich bewirkt, wenn du dich beschuldigst.
Ist es hilfreich? Lässt es dich nach vorne blicken? Lässt es dich im Rahmen deiner jetzigen Möglichkeiten umsichtig handeln?
Oder machst du dir schon seit geraumer Zeit Vorwürfe, drehst dich dabei im Kreis, steckst fest? Wenn es so ist, dann ist es meiner Meinung nach nicht hilfreich.
Das hängt mit dem Begriff von Schuld zusammen.
Denn Schuld wird häufig mit Verantwortung gleichgesetzt. Das hat Auswirkungen.
Stell dir vor, jemand sagt dir: "Du bist schuldig!" Wie reagierst du? Es könnte dazu führen, dass du die Beschuldigung von dir weist und dich verteidigst: "Das ist nicht wahr". Oder aber, dass du dich zerknirscht deiner Schuld bezichtigst; und das ist häufig mit Selbstvorwürfen, innerer Kritik und schlechtem Gewissen verbunden.
- Schuld hat etwas mit einem Fehlverhalten zu tun. Der Begriff ist seit dem 8. Jahrhundert aus dem Althochdeutschen belegt. Schuld wird mit Strafe verbunden. Die Frage "schuldig oder unschuldig" wird in der Rechtsprechung eingesetzt. Wer schuldig ist, hat mit Bestrafung zu rechnen.
- Wer nach Schuld fragt, meint damit immer auch Bestrafung.
Ich erinnere mich: Wenn etwas kaputt ging, als ich ein Kind war, wurde von den Erwachsenen gefragt: "Wer ist schuld daran?" In der Schule gab es Situationen, wo sich niemand gemeldet hat, und daraufhin gleich die ganze Klasse eine Strafe kassierte. Schuld bekam da bereits einen sehr negativen Beigeschmack. Schuld verknüpfte sich mit Angst vor Bestrafung.
Anders verhält es sich mit der Verantwortung.
Verantwortung kommt von "Antwort". Auch das kommt ursprünglich aus der Rechtssprache. Heute hat es die Bedeutung, dass jemand die Bereitschaft hat, für eine Handlung einzustehen. Das heißt nicht unbedingt, dass er der Urheber der Handlung war. Er muss nicht schuld daran sein.
Doch setzt man Schuld und Verantwortung gleich, meint man damit: "Bist du verantwortlich dafür?" im Sinne von "bist du schuld?" - was dann oft zu energischen Abwehrmanövern führt. "Ich doch nicht..." Dass jemand die Verantwortung dafür übernimmt, wird so eher behindert.
Verantwortung weist nach vorne. "Ich trage die Folgen dafür." "Ich setze mich für Lösungen ein." Hier wird danach gefragt, welche Konsequenzen eine Handlung hat und wie damit umgegangen werden soll.
Wenn etwas im Leben passiert, es zum Beispiel aus dem heiß ersehnten Job nichts wird, dann kann ich mich entweder endlos in der Schuld-Spirale drehen: "Ich bin schuld, ich habe nicht genug getan." Oder ich übernehme Verantwortung und frage mich: "Was kann ich daraus lernen? Und wie verhalte ich mich nun? Welche Möglichkeiten habe ich, wie gehe ich weiter vor?"
Das heißt nicht, dass nie nach Schuld gefragt werden soll oder Schuldige nicht benannt werden sollen.
Schuld ist ein wichtiges Konzept des Rechts und unseres Zusammenlebens.
Wenn jemand auf dem Zebrastreifen ein Kind überfährt, dann ist er rechtlich schuldig und wird von Rechts wegen eine Strafe erhalten (die Frage ist dann immer noch die Beweisbarkeit). Doch kann er unterschiedlich reagieren: Entweder abstreiten, der Täter zu sein, oder sich rausreden und die Schuld auf jemand anderen schieben: "Die Straße ist so unübersichtlich, da konnte ich das Kind gar nicht sehen, schuld ist die Stadtverwaltung."
Die rechtliche Schuld anerkennen ist das eine. Das andere ist, Verantwortung für die eigene Tat zu übernehmen. "Ja, ich habe dieses Kind überfahren. Ich war unaufmerksam. Es tut mir unendlich leid." Das wird mit intensiven Gefühlen verbunden sein. Sich diesen Gefühlen zu stellen, ermöglicht, etwas zu unternehmen und etwas zu verändern. Verantwortung ist aktiv. Verantwortung ermöglicht Freiheit.
So könnte sich der Täter an die Eltern des Kindes wenden. Ihnen sagen, wie leid es ihm tut. Sie fragen, was er für sie tun kann. Wäre er weiter in Schuldgefühlen verstrickt oder würde er die Schuld von sich weisen, würde er diesen Schritt wohl nicht tun.
Doch ist Schuld immer mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen verbunden. Es wird per Gesetz festgelegt, was in einem Land nicht akzeptiert wird. In manchen Ländern werden Frauen beschuldigt und bestraft, die ohne männliche Begleitung das Haus verlassen. Vergewaltigung in der Ehe stand in Deutschland, Österreich und der Schweiz lange nicht unter Strafe. In der Schweiz ist die Züchtigung von Kindern immer noch nicht per Gesetz verboten.
Den Job nicht bekommen? Anstatt dir Vorwürfe zu machen, kannst du Verantwortung übernehmen für deine Situation.
Um auf das obige Beispiel zurückzukommen: du wolltest eine bestimmte Ausbildung absolvieren oder in einer bestimmten Branche eine Anstellung und Position erhalten. Daraus wurde nichts.
- Du kannst Verantwortung übernehmen für diese Situation, anstatt dir Vorwürfe zu machen und dir eine Schuld einzureden oder aber die Schuld auf andere zu schieben (deine Eltern, die Gesellschaft, das Arbeitsamt etc.).
- Du kannst dir deine Gefühle eingestehen und mit ihnen in Kontakt gehen: Enttäuschung, Scham, Wut vielleicht. Das ist ein entscheidender Schritt. (Und tut weh. Deshalb ist es so schwierig – und einfacher, sich oder andere zu beschuldigen.)
- Und dich dann fragen, welche Schlüsse du aus all dem ziehst. Willst du es nochmals versuchen? Oder gehst du in eine andere Richtung? Was nimmst du aus dieser Erfahrung mit?
Mit dieser Haltung kannst du dich dann sehr wohl nach Missständen umschauen und mit ihnen auseinandersetzen.
Denn es bedeutetet ja nicht, dass in der Gesellschaft alle Bedingungen fair sind, deine Eltern keine Fehler gemacht haben oder das Arbeitsamt nicht Bedarf nach strukturellen Verbesserungen hätte. Doch erst, wenn du nicht mehr emotional in Schuld und Sühne verstrickt bist, kannst du dich solchen Themen widmen. Im Sinne von Verantwortung.
Wie geht es dir mit dem Thema Schuld und Verantwortung?
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