Feldenkrais: Christoph Habegger im Interview

Christoph Habegger spricht darüber, wie die Feldenkrais-Methode bei Prozessen der Veränderung und Neuorientierung unterstützen kann. Mir selbst hat sie in einer Wandlungsphase extrem geholfen.

Dieser Artikel ist erstmals am 10. Oktober 2013 erschienen, hier liest du die aktualisierte Fassung.

Regina Schlager (RS): Christoph, du bist Feldenkrais-Lehrer. Bei dir habe ich an einem Samstag Nachmittag, das war 2007, einen Einführungsworkshop besucht und die Feldenkrais-Methode kennengelernt. Seitdem hat sie mich begleitet und mich in meiner persönlichen Entwicklung unterstützt, vor allem auf meinem Weg zu einer beruflichen Tätigkeit, die mir entspricht.

Es fällt mir allerdings immer noch schwer, Feldenkrais zu beschreiben. Wie sprichst du in wenigen Worten zu jemandem über die Methode, der noch nicht mit ihr zu tun gehabt hat?

Unsere Grenzen würdigen und unsere Möglichkeiten ausweiten

Christoph Habegger (CH): Die Feldenkrais-Methode ist eine Lernmethode, mit derer Hilfe man zu größerer körperlicher und geistiger Flexibilität gelangen kann. Sie gründet auf der Art und Weise, wie Menschen Bewegung erlernen, wie sich Bewusstheit und Denken entwickeln, wie wir wahrnehmen, und auf welche Art wir lernen, mit unserer Umwelt in Beziehung zu sein.

Moshé Feldenkrais entwickelte zwei Lernmethoden: „Bewusstheit durch Bewegung“ – eine Arbeit in der Gruppe – und „Funktionale Integration“ – eine Einzelarbeit.

In den Gruppenlektionen werden die Lernenden durch eine Abfolge kleiner Bewegungssequenzen geführt, welche im eigenen Tempo, Rhythmus und Ausmaß erforscht werden können. Hierbei gibt es weder „falsch“ noch „richtig“, sondern die Art, wie wir Bewegungsanregungen hören und umsetzen.

Hier zeigt sich uns sehr unmittelbar, wie wir mit neuen, unbekannten Situationen umgehen, wie wir unsere Grenzen würdigen und unsere Möglichkeiten ausweiten. Die Lektionen erweitern die Fähigkeiten, mit Präzision, Kraft und Spontaneität zu handeln und vergrößern so unser Lernvermögen.

RS: Ja, das hat mich schon zu Beginn beeindruckt, dass es nicht um „richtig“ oder „falsch“ geht. Ich habe dabei Lernmuster von mir erkannt, immer wieder ist da der Gedanke aufgeblitzt: „Mache ich die Übung jetzt korrekt? Was denkt der Lehrer von mir? Wie führen die anderen sie aus?“ Das war wirklich eine sehr interessante Erfahrung. Und was passiert in der Einzelarbeit?

CH: Die Einzellektionen sind auf die individuellen Bedürfnisse der Lernenden zugeschnitten. Die Lehrenden setzen Berührung ein, um die Bewegungsgewohnheiten der Lernenden zuerst genau wahrzunehmen. Danach führen sie die Lernenden mit dem Einsatz der Hände zu differenzierter, leichterer und leistungsvollerer Bewegungsweise.

Als „Erziehung des Selbst“ in Bewusstheit und Handlung ist die Methode wertvoll für alle, die neue Wege suchen, um freier in ihren Ausdrucksmöglichkeiten und in ihrem Lebensgefühl zu werden – ob in Alltag, Beruf oder Freizeit.

Moshé Feldenkrais verkörperte auf einzigartige Weise den ganzheitlichen Ansatz der fernöstlichen Bewegungs- und Kampfkünste mit der didaktischen und analytischen Genauigkeit eines Wissenschafters. Die Hilfe zur Selbsthilfe war für ihn größtes Anliegen.

"Bewusstheit kann die Verwirrung lösen: in ihr scheint einem auf, was vonnöten ist und der Weg dahin. Damit setzt sie die schöpferischen Kräfte frei.“ Moshé Feldenkrais

Die innere Weisheit des Körpers

RS: Inwiefern hilft Feldenkrais aus deiner Sicht bei Prozessen der Veränderung und Neuorientierung, beispielsweise wenn jemand mit seiner beruflichen Tätigkeit nicht mehr zufrieden ist?

CH: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mein Körper eine innere Weisheit besitzt. Diese Weisheit ist nicht in den gewohnten Denkmustern meines Verstandes zu finden. Sie erschließt sich mir über meine Sinne.

Mein Körper weiß, wie sich eine Lebenssituation anfühlt. Er weiß, was verwirklicht werden möchte. Feldenkrais kann uns darin unterstützen, diese intuitiven Kräfte besser zu spüren und mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Sie helfen uns, unsere wahren Bedürfnisse zu erkennen und die nächsten Schritte zu setzen.

RS: Soweit ich die Feldenkrais-Methode erfahren und verstanden habe, geht es nicht um das Erbringen von Leistungen. Jeder und jede arbeitet in seinem oder ihrem Tempo, wie du das ja auch bereits beschrieben hast. Es muss kein Ziel erreicht werden.

Da kommt bei einigen wahrscheinlich der Gedanke auf: „Ja, aber wie soll ich es dann schaffen, mich zu verändern?“ Veränderung wird in unserer Kultur mit Anstrengung verbunden, meist muss es zudem noch schnell gehen.

CH: Veränderung setzt Neugier, Selbstreflexion und das Wagnis voraus, sich durch den Erkenntnisprozess verändern zu lassen. Wenn Veränderung nachhaltig sein soll, muss sie durch die Sinne gehen. Was wir gefühlvoll erlebt haben, geht uns nicht mehr verloren.

Unsere Sinne können sich jedoch nur in dem Maß öffnen, wie wir uns einer Handlung oder Situation hingeben. Jede Form von Anstrengung erzeugt dabei ein Hintergrundgeräusch. Die Nuancen, auf die es ankommt, wenn man sein eigenes Tun hinterfragen und verändern möchte, werden dadurch übertönt.

Lernen kann also nur stattfinden, wenn wir uns wohl, sicher und frei fühlen. Das Gleiche gilt für die Geschwindigkeit: es macht einen Unterschied, ob ich zu Fuß gehe oder im Auto fahre. Das Maß an Aufmerksamkeit nimmt mit dem Tempo ab.

Wenn eine neue Handlungsweise in den Alltag integriert wurde, kann ich selbstverständlich mit der Geschwindigkeit spielen. Es spricht also nichts dagegen, schnell zu sein, wenn mir etwas vertraut ist und ich es verkörpert habe.

Beziehung zu sich selbst

RS: Dass dieses Hintergrundgeräusch, das durch Anstrengung entsteht, die Nuancen, auf die es ankommt, übertönt – das ist wunderbar ausgedrückt. So hatte ich es noch nicht gesehen.

Ich sehe als Basis jeder Veränderung die Beziehung zu sich selbst. Kann die Feldenkrais-Methode die Beziehung zu sich selbst beeinflussen?

CH: Absolut! Wenn ich lerne, mich selber besser zu spüren - meine Grenzen, meine Gewohnheiten, aber auch meine Möglichkeiten, meine Kraft, mein Potential - verändert das meine Beziehung zu mir und damit zur Welt. Ich gewinne an Selbstvertrauen und Spontaneität und erkenne meine ganz persönliche Art, Leben wahrzunehmen und umzusetzen.

Dadurch setzt auch eine Versöhnung ein mit meiner Lebensgeschichte, den erfahrenen Kränkungen, dem erlittenen Leid, den Vorwürfen mir selbst und anderen gegenüber.

RS: Ja, die Versöhnung mit sich selbst und dem eigenen Leben, das halte ich für ganz zentral. Versöhnung kann nicht von außen kommen. Ohne uns auszusöhnen, können wir nicht wirklich frei sein und offen für Neues. Vielen Dank für das Gespräch!

Christoph Habegger, geboren in Zürich, lebt seit 1991 in Wien. Er leitet das Insititut Somart in Wien.

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