Warum Self-Care ein erweitertes Selbst braucht

Selbstfürsorge trifft häufig auf den Vorwurf, egoistisch zu sein. Das hängt damit zusammen, wie die Sorge für sich selbst von der Werbung ausgenutzt wird, aber auch mit einem engen Verständnis vom Selbst. “Indigenialität” (Andreas Weber) kennt kein abgetrenntes Selbst.

Ist Selbstfürsorge egoistisch?

Ich verwende Self-Care und Selbstfürsorge synonym, Zweiteres ist der englische Ausdruck, der aber auch im deutschen Sprachraum immer häufiger verwendet wird. Seit einiger Zeit stoße ich auf Stimmen, die Self-Care als egoistisch bezeichnen.

Welche Argumente werden dabei genannt?

Wenn es um die Sorge für sich selbst geht, bemerke ich zwei Ansätze: 

  1. Man drehe sich dabei nur um sich selbst, es sei egoistisch, man vernachlässige "die anderen".

  2. Es sei wichtig, sich um sich selbst zu kümmern, manchmal mit dem Nachsatz, dass man sich dann erst anderen zuwenden könne.

Der zweite Ansatz wird von der Marktlogik aufgegriffen, grundlegende menschliche Bedürfnisse (Selbsterkenntnis, Wohlbefinden, Austausch und Nähe) werden vernutzt. Dahinter steckt bei vielen Produkten und Dienstleistungen nicht so sehr die Absicht, wirklich zu helfen, sondern schlicht etwas zu verkaufen. Und nicht nur etwas, sondern immer mehr.

Das wiederum wird von Vertreter:innen des ersten Ansatzes herangezogen, um auf Eigensucht und Selbstoptimierung hinzuweisen: viele Menschen würden nur an sich selbst denken. Ihnen ginge es nur um Konsum und persönliches Wohlgefühl.

Was ist dabei der Elephant im Raum? Was wird von beiden Positionen aus nicht gesehen?

Das Selbst.

Genauer, die Auffassung, was wir unter Selbst verstehen (wollen).

  • In beiden Ansätzen wird davon ausgegangen, dass es sich beim Selbst um etwas handelt, dass fein säuberlich abgetrennt ist von "den anderen".

  • Diese Anderen sind dabei andere Menschen; nur ihnen wird ein Selbst zugestanden, nicht aber Tieren, Pflanzen, Gesteinen, Flüssen oder der Erde insgesamt.

  • Doch bei den Menschen wird ebenfalls getrennt: manche werden als besser oder wertvoller eingestuft als andere, zu mehr Selbstbestimmung, Raum und Besitz berechtigt. Diese Hierarchisierung, die von vorneherein zu unterschiedlichen Chancen führt, wird wiederum verschleiert mit Aussagen wie, jede Person könne alles erreichen und jeder könne reich werden, wenn nur der Wille da sei.

Das Konzept der Trennung als solches wird nicht hinterfragt. Das ist auch nicht verwunderlich, da es unser Denken und Handeln so grundlegend bestimmt.

"Indigenialität"

In seinem Buch "Indigenialität" geht der Biologe und Philosoph Andreas Weber davon aus, dass wir von indigenen Kulturen lernen können, ja müssen, wollen wir aus der ökologischen Krise – und allen Krisen, die damit zusammenhängen – herausfinden.

  • Indigene kennen kein abgetrenntes Selbst. Menschen werden nicht zu Objekten gemacht. Und es gibt keine Objekte, über die alleine Menschen verfügen dürfen. Auch keine "Natur", denn das setzt schon eine Spaltung von "hier wir" – "dort Natur" voraus.

  • Alles ist Beziehung, Gegenseitigkeit. Das eigene Selbst blüht dadurch, indem auch alles andere blühen kann. Strukturelle Benachteiligung, sexueller Missbrauch, “Nutztiere”, abgeholzte Wälder, vergiftete Flüsse, Anhäufung von Geld zum eigenen Vorteil, Eigentum von Land sind aus dieser Weltsicht absurd.

Äußert man solche Dinge, wird es häufig romantisiert (als sei bei Indigenen alles heile Welt) oder als naiv dargestellt ("das ist doch gar nicht möglich", "der Mensch ist von Natur aus gierig").

Doch auch in den Kulturen, die häufig "westlich", "modern" oder "zivilisiert" bezeichnet werden, kennen wir das: in Katastrophensituationen helfen wir einander, ganz spontan, ohne zu fragen, was die anderen mit uns zu tun haben oder was es uns bringt.

Was ich von Self-Care halte

Persönlich halte ich Selbstfürsorge für sehr wichtig, ich integriere sie auch in meine Coachings und in das kreative Schreiben.

Vielen fällt es schwer, sich selbst anzunehmen und sich Gutes zu tun; gerade, weil das schnell als selbstsüchtig und egoistisch bewertet wird.

Im Vordergrund sollen "die anderen" stehen. Gerade Frauen haben verinnerlicht, sich zuerst um andere zu kümmern, bevor sie selbst in den Fokus kommen.

Auf der einen Seite wird nur Leistung anerkannt, die in Geld bemessen wird, andererseits würde unser Wirtschaftssystem zusammenbrechen ohne die gratis Care-Arbeit, die immer noch großteils Frauen leisten, und die vielen Freiwilligen-Stunden, in denen Menschen Anerkennung und Erfüllung finden.

Wenn das der Fall ist, dann ist es tatsächlich entscheidend, sich zunächst einmal ganz bewusst in den Mittelpunkt zu stellen und sich zu fragen: "Wo bleibe eigentlich ich?", "Was brauche ich?"

Das ist ein Prozess, der auch Trauer und Wut auslösen kann: Um so viel Versäumtes, so viel Zeit, wo man nur nach der Musik von anderen getanzt hat, ohne die eigene kennenzulernen. Wo man so sehr im Außen war, um es allen recht zu machen, um in ein Bild hineinzupassen, wie “man zu sein hat”.

So eine erzwungene Unterwerfung unter die Bedürfnisse anderer und der Gesellschaft führt nicht dazu, sich aufrichtig um andere zu kümmern, die Selbstverleugnung wird immer mitschwingen und unterschwellig Groll hineinbringen.

Das Verständnis von Selbst erweitern

Ich sehe es als keinen Widerspruch zu Selbstfürsorge, das Verständnis von Selbst zu erweitern. Im Gegenteil, ich erachte es sogar für notwendig. Dann wäre Self-Care in sich schon Ausdruck von Gegenseitigkeit.

(Ich bin mir bewusst, dass dieser Artikel das Thema des Selbst und der “Indigenialität” nur anreißt, vieles bleibt offen und vielleicht unklar – ich sehe es als Work-in-Progress, werde es also weiterführen, ergänzen, in diesem Artikel und in weiteren. To be continued… )

Was hältst du von einem erweiterten Verständnis vom Selbst? Schreibe gerne dazu in den Kommentaren.

Quellen:

Heike-Melba Fendel: Gönn dir! Werbung macht aus Egoismus eine Tugend. Deutschlandfunk Kultur 24.03.2023

Jennifer Evans: So lässt sich Glück lernen – und halten. Pharmazeutische Zeitung 25.03.2024

Andreas Weber: Indigenialität. Berlin: Matthes & Seitz 2024 (ISBN: 978-3-7518-3010-2)

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